«Ich werde misstrauisch»

29.08.2019 | Timo Züst
Stefan (2)
Diakon Stefan Staub glaubt, dass die Reformen in der Kirche mit einem „Knall“ kommen werden. Foto: tiz Timo Züst Heute wurde ein weitere Missbrauchsfall in der Katholischen Kirche bekannt. Der Fall im Bistum St. Gallen liegt Jahrzehnte zurück – trotzdem hat seine Bekanntmachung Folgen. Welche genau und was die Kirche ändern muss, hat die TP Diakon Stefan Staub gefragt. Herr Staub, gleich drauflos: Wie haben Sie vom Missbrauchsfall im Bistum St. Gallen erfahren? Wir erhielten die Pressemitteilung des Bistums ein paar Stunden vor den Medien. Konkret war das gestern Vormittag um 8 Uhr. Die Mitteilung war mit einer Informationssperre belegt und wir erhielten nicht mehr Hintergründe. Was war Ihr erster Gedanke? Nicht schon wieder. Solche Meldungen ziehen immer einen ganzen Rattenschwanz nach sich. Das wird auch wieder zu einer Welle von Kirchenaustritten führen. Das ist logisch. Für die katholische Kirche als Organisation, die sich an Werten orientiert und ethische Normen einfordert, ist der Spielraum sehr klein. So ein Vorfall ist jedoch immer sehr schlimm. Egal, wo er passiert. Bei der Kirche ist es aber doppelt problematisch. Und die Öffentlichkeit ist da – verständlicherweise – unbarmherzig. Das betrifft dann natürlich auch alle Vertreter der Kirche, die eigentlich das komplette Gegenteil verkörpern. Haben Sie die Information gestern schon mit jemandem geteilt? Nein, ich habe lediglich das Seelsorgeteam informiert. Das wäre aufgrund der Informationssperre übrigens auch gar nicht möglich gewesen. Ich habe mir aber überlegt, dem betroffenen Priester zu schreiben. Sie kennen ihn? Ja, schliesslich ist St. Gallen ein kleines Bistum. Und werden Sie schreiben? Ich werde ihm mitteilen, dass die Situation bei mir auch Betroffenheit ausgelöst hat. Ich will überhaupt nichts beschönigen. Aber in solchen Fällen wird jemand sehr schnell gebrandmarkt. Und die vergangenen Jahre können für ihn auch nicht einfach gewesen sein. Schliesslich lebte er mit der ständigen Angst, dass er der nächste sein wird. Aber dennoch: Es gilt nichts gutzureden an diesem Vorfall. Sie erschraken also nicht, als Sie heute die Zeitung aufschlugen. Nein, mir war klar, dass das aufgenommen wird. Ausserdem fand ich die Berichterstattung des Tagblatts angemessen, sachlich und differenziert. Ich denke, das hat auch mit der transparenten Information des Bistums und der Nulltoleranz-Politik zu tun. Das Bistum hat den Priester ja angezeigt. Sie befürworten die Anzeige. Auch wenn der Fall 30 Jahre zurück liegt. Eben, weil wir uns als Kirche bei diesem Thema in so einem heiklen Spannungsfeld befinden, muss die Nulltoleranz sein. Das ist zwar für alle Beteiligten schwierig. Auch der Bischof war sehr betroffen und leidet – und das glaube ich ihm auch. Aber Transparenz ist hier das einzig richtige Vorgehen. Sie erwähnten bereits, dass so etwas immer auch Kirchenaustritte zur Folge hat. Begegnen Ihnen die Menschen im Nachgang einer solchen Meldung auch persönlich anders? Erstaunlicherweise nicht. Unserer Pfarrei wird sehr viel Wohlwollen entgegengebracht. Aber natürlich suchen Menschen mit einer sehr negativen Haltung gegenüber der Katholischen Kirche den Kontakt gar nicht erst. Etwas überspitzt gefragt: Ihnen wird also nicht misstraut? Nein. Aber ich hingegen werde misstrauisch. Wie meinen Sie das? Ein Beispiel: Vor kurzem klingelte ein Mädchen im jugendlichen Alter bei mir im Pfarrhaus. Sie wollte mit mir reden. Weil ich aufgrund dieser vielen Fälle so sensibilisiert bin, habe ich sie nicht zu mir hineingebeten. Das Gespräch fand unten im Büro statt – mit einer offenen Tür zu einer Mitarbeiterin. Das ist ein reiner Schutzmechanismus, den ich mir im Kontakt mit Jugendlichen und Kindern aneignet habe. Eigentlich auch tragisch. Andererseits ist es auch ein gutes Zeichen, dass bei den Seelsorgern so viel für die Sensibilisierung in diesem Bereich getan wird. Das Bistum organisiert zum Beispiel immer wieder Workshops zum Thema Nähe und Distanz in der Seelsorge. Daran müssen alle teilnehmen – von der Religionslehrerin über den Diakon bis zum Priester. Diese Bildungsveranstaltung ist für alle Seelsorgenden obligatorisch Vielleicht haben Sie es gemerkt: Meine E-Mail heute Morgen war ziemlich vorsichtig formuliert. Ich war mir nicht ganz sicher, ob Sie zu diesem Thema Auskunft geben wollen oder dürfen. Zum eigentlichen Fall kann ich nichts sagen. Darüber gibt die Pressestelle des Bistums Auskunft. Natürlich. Trotzdem sagten Sie einem Gespräch sofort zu. Sollten die Seelsorger an der Basis vielleicht im Allgemeinen auch mehr zu solch kontroversen Themen sagen? Auf jeden Fall! Für mich war von Anfang an klar, dass ich es machen werde. Mir käme gar nie etwas anderes in den Sinn. Schliesslich spüre ich in der Gemeinde weiterhin grosses Interesse an der Kirche. Und ich bin überzeugt davon, dass die Kirche auch in Zukunft gefragt sein wird. Gerade deshalb finde ich es wichtig, dass wir auch zu solchen Themen Stellung nehmen – und auch die überholten Strukturen thematisieren. Denn es hat einen Grund, warum die Kirche oft mit solchen Fällen konfrontiert ist. Sie sprechen von überholten Strukturen. Die meisten Missbrauchsfälle, die in den vergangenen Jahren öffentlich wurden, sind älter. Auch dieser. Besteht heute noch das gleiche Risiko? Ausschliessen kann man es natürlich nie. Das gilt nicht nur für die Kirche, sondern für alle Institutionen und Vereine, die mit Kindern und Jugendlichen arbeiten. Das sahen wir ja kürzlich auch in Wil oder in einer St. Galler Kinderkrippe. Was ich sicher sagen kann, ist, dass die Wahrscheinlichkeit inzwischen viel kleiner ist. Einfach deshalb, weil es einerseits heute viel weniger Priester gibt und andererseits das Thema in der Ausbildung prioritär behandelt wird Aber das Zölibat allein ist auch nicht der Grund. Man kann nicht die Rechnung machen: Zölibat gleich Missbrauch. Aber das Zölibat ist doch Teil dieser überholten Strukturen? Es lässt sich natürlich nicht abstreiten, dass das Zölibat seinen Teil zu den Missbrauchsfällen beiträgt. Ich hatte mich auch einmal mit dem Gedanken auseinandergesetzt, Priester zu werden. Dann beschäftigt man sich natürlich auch mit dem Zölibat und überlegt sich Strategien, wie man mit dem Verzicht auf Ehe und partnerschaftliche Sexualität umgehen könnte. Ich entschied mich dagegen, weil ich daran wohl zerbrochen wäre. Aber jeder Priester muss sich selbst dem Thema stellen. Schliesslich kann man das Bedürfnis nach Nähe und Sexualität nicht einfach per Knopfdruck abstellen. Wenn im Leben eines Priesters der Alltag kommt, zu dem auch das Alleinsein gehört, tragen Strategien halt nicht immer. Ganz konkret sprechen Sie sich hier gerade für die Abschaffung des Zölibats aus, oder? Ich persönlich sehe keinen Grund oder Vorteil des verpflichtenden Zölibats; mit Betonung auf «Pflicht». Jemanden zur Ehelosigkeit zu verpflichten, um glaubwürdig als Seelsorger und als «Mann Gottes» oder «Frau Gottes» zu wirken, sehe ich als überholt. Das kann heute kaum mehr verständlich gemacht werden. Ich kann mir nicht vorstellen, dass das Pflichtzölibat zur Freude Gottes ist.   Hat es denn einmal Sinn gemacht? Historisch gesehen, war die Idee des Zölibats, dass ein Priester rund um die Uhr für seine Pfarrfamilie, sprich seine Kirchgemeinde, zur Verfügung steht. Man tat es Jesus gleich und glaubte, die Ehelosigkeit sei auch ein Zeichen für eine besondere Beziehung zu Gott. Priester sollten darin Jesus Christus ähnlich werden. Priester sollen in der Pfarrei ihre «Familie» haben. Aber das entspricht heute nicht mehr der Realität. Ich würde nie von meiner «Pfarrfamilie» sprechen. Die Individualisierung und gesellschaftliche Öffnung hat auch die Beziehung der Menschen zur Kirche verändert. Das Bild, dass die katholische Pfarrfamilie wie ein Bollwerk vor den Gefahren der Welt bestehen muss, ist überholt. Wie nah sind wir denn an der Abschaffung des Zölibats? Innerhalb der Kirche gibt es zwei Strömungen. Die einen pochen auf Reformen und die anderen, die «Bewahrer», fürchten, dass die Kirchen zusammenbrechen würde, wenn wir die alten Strukturen aufgeben. Aber ehrlich gesagt, hat man die Zeit der Reformen schon lange verpasst. Wenn jetzt Frauen predigen dürfen, geht kein Glücksschrei durch die Gesellschaft. Im Sinne von «Wow, die Kirche ist modern!». Und zwar, weil dies in unserer westlichen Welt einfach selbstverständlich ist. Es braucht vermutlich etwas Neues, das nicht im Vatikan entwickelt wird, sondern an der Basis entsteht. Sie gehen also von einem grossen Knall aus? Ich vermute es. Und das kann heftig werden. Heftig im Sinne einer Abspaltung? Das wäre möglich. Heute hat die Kirche nicht mehr jene Autorität, die sie früher hatte. Damals hiess es: Ohne Kirche verlierst du den Zugang zum Himmel. In der heutigen Ausgangslage ist eine Abspaltung noch realistischer als früher. Vielleicht müsste auch die Kirche regionaler werden. Schliesslich findet das kirchliche Leben – auch der soziale und kulturelle Teil – in den Gemeinden statt. Das ist innerhalb der Kirche natürlich das grosse Thema. Es ist klar, dass man nicht von Grönland bis Patagonien die gleiche kulturelle, rituelle und symbolische Basis verwenden kann. Dazwischen liegen viele unterschiedliche Kulturen mit unterschiedlichen Bedürfnissen. Dem muss man doch Rechnung tragen. Regionale Kirchen mit eigenen Ausdrucksformen unter dem Dach der Weltkirche wäre meines Erachtens ein richtiger Schritt in die richtige Richtung. Und das dürfen Sie alles sagen? Natürlich: Auch das ist Teil der Kirche. Wir haben die Freiheit, zu sagen und zu handeln, wie wir es für richtig befinden. Wir alle – und ich – sind auch Kirche. Ich bin überzeugt davon, dass die Menschen die Kirche ausmachen und nicht nur Riten und Vorschriften.

Ist die Kirche noch zu retten?

Am Mittwochabend, 25. September, ab 18 Uhr findet im Pfarreizentrum Stofel im Rahmen einer «Zukunftswerkstatt Kirche & Gesellschaft» eine Podiumsveranstaltung mit Diskussionsmöglichkeit statt. Albert Wicki, Priester und Pfarrer der Seelsorgeeinheit Gäbris, Stefan Staub, Diakon, Pfarreileiter, sowie Armee- und Polizeiseelsorger und Vreni Ammann, Theologin und Pfarreileiterin St. Gallen-Rotmonten stellen sich den Fragen von Hans-Peter Ulli, Teamentwickler und ehemaliger Gemeinde- und Parteipolitiker.

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